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Gut gespitzte Bleistifte in Bosnien

Ein spontaner Roadtrip nach Sarajevo zum Filmfestival? Da konnte ich nicht Nein sagen. Doch was wird mich in Sarajevo erwarten? Prompt kommen mir eine Reihe Vorurteile in den Sinn, von Adidas-Jogginghosen bis zu Grenzen, die man nur mit Geldscheinen im Pass übertreten darf. Vor allem dachte ich jedoch an den Krieg und suchte nach seiner Sichtbarkeit im heutigen Bosnien.

Den ersten Stopp machten wir in der kleinen Stadt Tešanj. Hier hatten während des Bosnienkrieges Kampfhandlungen stattgefunden. Auf der Homepage der Stadt erfährt man, die Stadt war nicht „unprepared here, at least not in an organizational sense.“ Doch kann man – selbst in einer Stadt mit Waffenproduktion – vorbereitet sein auf vier bis fünf Luftangriffe pro Tag und über 700 Tote? Heute zeugen die Einschusslöcher in den Wänden der Gebäude sowie einige zerstörte Häuser am Straßenrand vom Krieg. Das sieht aber nicht wirklich anders aus als die halb-fertigen, zweistöckigen Gebäude-Skelette in Griechenland, wirkt jedoch traurig grotesk in der wunderschönen grünen, hügeligen Landschaft.

SarajevoVielleicht findet man die Spuren des Krieges in der Stadt, die 1.425 Tage lang belagert wurde, die längste Belagerung im 20. Jahrhundert: Sarajevo. Von der Jugendherberge haben wir einen schönen Blick über das Häusermeer. Die Vorstellung, dass auch Soldaten diesen Ausblick um die Hügel Sarajevos nutzten um auf Passanten zu schießen, hinterlässt ein mulmiges Gefühl. Heute werden hier Fotos von Brautpaaren gemacht.

Sarajevo

Man hat in der Stadt die Granattrichter aufgefüllt und mit roter Farbe die Stellen markiert, wo Menschen gestorben sind. Diese „Rosen von Sarajevo“ und das „Ewige Feuer“ in der Einkaufsstraße erinnern an die Vergangenheit.

Sarajevo, Ewiges Feuer

Klammert man die Suche nach dem Krieg aus, so ist Sarajevo eine Mischung aus Orient und Okzident. Ein muslimisches Viertel mit alten Holzhäusern, Lokalen mit niedrigen Tischen, Wasserpfeifen und Frauen mit Kopftücher, und in die andere Richtung neue Einkaufszentren, die Universität, Bars, Jugendherbergen und Geschäfte der internationalen Ketten. Durch die Vielzahl verschiedener Gotteshäuser (Synagogen, Moscheen, Kirchen) wird die Stadt auch als Klein-Jerusalem bezeichnet.

Sarajevo, Baščaršija

Sarajevo

Sarajevo, Serbisch-Orthodoxe Kirche des Heiligen Erzengels

Ein stiller Ort mitten in der Stadt: die Serbisch-Orthodoxe Kirche des Heiligen ErzengelsSarajevo, Serbisch-Orthodoxe Kirche des Heiligen Erzengels

Das Filmfestival ist mitten in der Stadt und international besetzt. Die vielen Open Air Kinos zeigen jeden Tag mehrere internationale Filme, alle auch für das englischsprachige Publikum verständlich. Am Abend wird die Straße vor dem Festivalzentrum für das Partyvolk freigegeben und man kann entspannt Leute beobachten (übrigens trägt keiner Jogginghosen), etwas trinken oder zur Musik tanzen. Anhand des Festival-Programms verstärkt sich noch mehr mein Eindruck, dass es sich bei Sarajevo um eine zentrale Stadt in Südosteuropa handelt. Ein durchaus sehenswertes Festival von dem sich Wien einiges an Lockerheit und Mut zur Öffnung in Richtung Balkan abschauen kann. 2014 findet das Festival übrigens vom 15. bis zum 23. August statt.

Sarajevo, Filmfestival

Tipp: Nostalgiker oder „Zeitreisende“ können sich im Café Tito alte Tito-Fotografien und Kommunismus-Kitsch ansehen, mit freien Blick auf die im Park stehenden Panzer.

Sarajevo, Cafe Tito

Sarajevo, Cafe TitoWer mehr über Bosnien und den Bosnienkrieg erfahren möchte, dem empfehle ich „Bosnien“ vom Comicjournalisten Joe Sacco, den Film „No Man’s Land“ von Danis Tanović und Juli Zehs „Die Stille ist ein Geräusch“. Das schönstes Zitat von Juli Zeh?

„Der Himmel hängt tief, die Minarette zielen wie zu gut gespitzte Bleistifte auf ihn, bereit, die Botschaft Allahs oder I love Sarajevo in die Wolken zu zeichnen.“

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