Reisen
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Busreisen, Umwege und ein unaussprechlich cooler Vulkan

Sie setzt sich nie! Wenn eine Person im Bus den Sitzplatz vor einem bezieht, dann setzt sie sich nie – sie lässt sich regelrecht fallen und drückt den Vordersitz noch weitere kostbare Zentimeter, die man nun mal nicht hat, zurück und damit die Halterung des Zeitschriftennetzes vor einem direkt ins Knie. Zum Glück zeigt das Kind hinter einem Erbarmen, hat das Auf- und Zuklappen des Aschenbechers eingestellt und Gefallen daran gefunden, die Lichtblende außer Gefecht zu setzen.

Stört nicht weiter, Vorhänge wären für den Bedarfsfall zusätzlich noch da und außerdem hat man Glück, dass die jeweils 1 1/2 Sitzreihen langen Fenster so abgeschnitten sind, dass die wackelnde Lichtblende kein zusätzliches Ärgernis bedeutet. Man sitzt und wartet auch so lang genug. Abwechslung bietet nur die freundliche im Vordersitz herumrutschende Person und lenkt von der stickigen Busluft ab. Ist ja nicht so, als ob der Schweiß das Hemd schon an den Körper klatschen würde, so dass der Haut kein Raum zum Atmen bleibt. An diesem Punkt quält die Wahl, ob man sich vergewissert, dass die „Klimazufuhr“ eh defekt ist, um nicht nur blöd genug gewesen zu sein, ihre Funktionalität gänzlich ausgeschlossen zu haben, oder ob man willensstark genug ist, das Risiko eingeht und dafür eine Enttäuschung weniger hinnehmen muss. Nun misst nicht jeder 1,92 Meter, aber Busreisen sind wohl für niemanden so angenehm und reibungslos wie eine glatte Rutsche in den Swimmingpool. Man gönnt sie auch sonst keinem. Es sei denn…

Italienischer Reisebus - Warten auf die Abfahrt

Italienischer Reisebus – Warten auf die Abfahrt

Island. Als großer Fan von Reisen und Urlaub muss ich gestehen: Hat mich persönlich nie interessiert. Dort ist niemand zu Hause, außer ein paar Huftiere, Fischer und Verzehrer von Meeressäugern. Die Landschaft soll „voll schön“ sein, aber man kennt die Geographie, hat eine vage Ahnung vom betroffenen Breitengrad (sehr, sehr nördlich) und Golfstrom hin oder her: so schön kann das sicher nicht sein. Jetzt waren schon einige Freunde dort (die Besitzerin dieses Blogs mit ihrem Freund, die Freundin mit ihrer Familie und Michi, der weiter unten wieder auftaucht) und so begeistert die Geschichten von Schwimmen im Schwefelwasser und dem weltgrößtem Penismuseum auch waren: 63. Breitengrad!!! Außerdem muss man weite Strecken mit Mietwagen (oder schlimmer: Bus!) reisen. Also war Island nie auf meiner geistigen Landkarte. Bis…
Frühjahr 2010. Die Flüge über Europa sind eingestellt. Ein unaussprechlich rücksichtsloser isländischer Vulkan namens Eyiafjalla-irgendwas ist ausgebrochen. Wer sich mit der Aussprache schwer tut kann ihn so wie Jose Mourinho einfach „Guðjohnsen“ nennen. Es ist schon interessant, wieviele Leute man kennen lernt, die exakt in dieser heißen Phase einen Rückflug nicht antreten konnten. Die Arbeitskollegin, die sich in einem Zug im Speisewagen einen Sitzplatz ergaunert hat, der Vater der Freundin, der aus Portugal (oder war es Spanien?) gleich mehrere Busse oder Züge über Deutschland nach Brüssel nehmen musste oder der Anbieter unseres Datanbanksystems in der Arbeit, der sich stückweise in einer Kombination von Zug- und Busfahrten aus Spanien (oder war es Portugal?) über Italien (genauer: Mailand) nach Deutschland etappenweise annähern musste. Tragische Geschichten, bei denen mir jede(r) einzelne aufrichtig leid tat, ich aber kaum Mitgefühl aufbringen konnte, denn bei dem unaussprechlich schönen Wort „Guðjohnsen“ (der undankbarer Weise nie genannt wird; in den Erzählungen der betroffenen Personen wird auf ihn nur als „dieser isländische Vulkan“ verwiesen) wird es mir warm ums schneller pochende Herz, das Zuhören fällt schwer und vor dem inneren Auge spielt sich der Film über eine andere Flugreise ab, die nicht angetreten werden konnte.
Wann Flüge möglich waren entschied der Vulkan.

Wann Flüge möglich waren entschied der Vulkan.

Barcelona. Mit etwas, das ein pfiffiger „Zeit“-Redakteur zutreffender Weise als „Ballbesitzfetischismus“ bezeichnet hat, passelte sich die statistisch damals kleinste Erstligamannschaft Europas in die Herzen der Fans und ins Halbfinale der Champions-League-Saison 2009/10. Sie selbst nannten es weniger zutreffend – weil lautmalerisch irreführend – „Tiki-Taka“. Es suggeriert ein schnelllebiges Spiel, hört sich aber in Wahrheit so an: Ballhalten-noch-ein-Pass-und-Ball-halten-noch-ein-Pass-was-mach-ich-jetzt-na-noch-nen-Pass-und-Pass-Pass-Pass-und-jetzt zur-Seite-wieder-quer-und-Pass-Pass-quer-rüber-Pass-ein-Meter-Raumgewinn-noch-ein-Pass-zwei-nach-vor-drei-nach-hinten-aber-am-liebsten-quer-und-rüber-Pass-Pass-Passt-tiki-taka-passa-passa… Die leicht zu überblickende Genialität dahinter (wenn man selbst den Ball hat, kann der Gegner kein Tor schießen) reichte aus, dass dieser Spielstil von nicht wenigen als der beste aller Zeiten betitelt wurde. Tatsächlich hat die Taktik dem FC Barcelona einige Erfolge und eine große Obsession beschert, wie es der Trainer ihres nächsten Gegners, Jose Mourinho, der nun im Halbfinale mit Inter Mailand auf sie traf, selbst treffend auf den Punkt brachte. Barcelona hatte sich die Krankheit  eingefangen, die sonst Fußballdeutschland bei jedem Großturnier ereilt: sie müssen gewinnen. Weil sie es sich selbst so einreden. Während der Sieg für Inter ein Traum war, verbissen sich die Spanier in ihrer Obsession. Zwar jubelten die Katalanen noch anstelle bei sich einstellendem Erfolg einfach nur die Faust zu ballen, grimmig dreinzuschauen und die Zähne zu zeigen, aber ihr siegessicheres Verhalten kippte schnell in Arroganz um als bereits erwähnter Eiður Guðjohnsen ausbrach und den europäischen Flugverkehr lahmlegte.
„Wir müssen Inter Mailand [die in der Runde zuvor CSKA Moskau aus dem Bewerb geworfen haben] danken, dass wir am Weg nach Madrid [wo das Finale stattfinden sollte] nicht noch nach Moskau fahren müssen.“ Man musste also „nur den Umweg nach Mailand“ nehmen. Und während man sich am Platz mit rekordverdächtigen 200 Pässen pro Meter Raumgewinn dem Finale näherte, wählte man für den Umweg nach Mailand den Bus. Meine Hoffnung als Interfan war, dass das sogar der – wie bereits erwähnten – damals statistisch kleinsten Erstligamannschaft Europas schwer zu schaffen machen würde. Während die kindsgroßen Messis und Xavis bestimmt mit den Füßen baumelnd die Aschenbecher an den Sitzen der einzigen zwei über 1,80 Meter großen Mitspielern auf und zuklappten, hätten sich ja der eine oder andere Spieler an der funktionierenden Klimaanlage des Luxusbusses eine Erkältung holen können.
Zumindest schien es so, als würde meine Hoffnung nicht erfüllt: Anpfiff, Tor für Barcelona. Der frühere islandreisende Michi klopfte mir wenig aufbauend auf die Schulter: „Das war’s dann wohl!“. Schien so. Barca strartet mit einem Auswärtstor und ohne Ballbesitz wird der Weg nach Madrid doch sehr steinig. Doch kann vergaß der Schiri ausnahmsweise den abermals korrekt stehenden Milito im Abseits gesehen zu haben. Pass auf Sneijder, Ausgleich. Es geht ja. Wenn der Gegner den Ballbesitz partout nicht teilen will, muss man die Taktik eben anpassen, was dann so klingt: gut-stehen-aufpassen-aufpassen-pressen-gut-stehen-tackeln-Pass-Maicon-Schuss-Tor-2:1. Dieses blöde Auswärtstor! An Auswärtstoren auszuscheiden ist immer die Höchststrafe. 3:1: Das könnt sich ausgehen.
Eiður Guðjohnsen, diesen unaussprechlich geilen isländischen Vulkan muss man einfach lieben! Rechtzeitig für das Rückspiel war die ganze Asche wieder aus dem Himmel verschwunden, Inter konnte fliegen und nachdem mir meine Fingernägel ausgingen und ich schon an den Fingern knabberte, stand Inter im Finale. Nachdem Busquets eine rote Karte gegen Inter ermogelt hatte und sich am Boden windend noch schelmisch vergewisserte, dass der Schiedsrichter auch seine Aufgabe erfüllt, wurde es für Inter eine bittere Abwehrschlacht. Ohne vollständige Spieleranzahl und Ball hieß es lange, lange durchzustehen, aber selbst bei gefühlten 100% Ballbesitz konnte Barca das Spiel nicht mehr drehen. So sehr sich die Partie gezogen hat, so schnell brachte ich im legendären Stamm-Pub eine den Moment würdigende Inschrift an und wurden die nächsten Reisevorbereitungen getroffen. Inter buchte Madrid. Gegner waren die Bayern aus München. Karten fürs Finale bekommt man natürlich nicht, wenn man nicht gerade Funktionär ist oder bei Heineken, Playstation oder Mastercard arbeitet. Oder unbeschreibliches Glück hat. Michi und ich buchten Mailand. Über Bratislava. Dorthin mit dem Bus. Egal, denn vor lauter Vorfreude ließen sich sämtliche Aschenbecher und Klimagebläsevorrichtungen vollständig ausblenden.
Public Viewing in Mailand

Public Viewing in Mailand

Public Viewing mit knapp 200.000 Interfans am Piazza Duomo in Mailand hat natürlich den Vorteil, im Ernstfall keine Deutschen sehen zu müssen, wie sie Fäuste ballen, Zähne zeigen und grimmig schauen – oder schlimmer: tatsächlich das Jubeln für sich entdecken.
Am Piazza Duomo mit ein paar Interfans.

Am Piazza Duomo mit ein paar Interfans.

Der Platz war bereits Stunden vor Anpfiff maßlos überfüllt. Während Inter keinen einzigen Italiener in der Startformation hatte (Internazionale eben), wollten wir Aronne treffen, einen waschechten Mailänder, der aber wegen seines Auslandzivildienstes extra aus Rumänien anreisen musste. Immerhin mit dem Flugzeug. Treffen in den Massen zu arrangieren klingt unmöglich, zumal das Handynetz wegen der ausgiebigen Auslastung nicht durchgängig verfügbar war. Aber es funktionierte:
Wo seid ihr? Bei Vittorio Emanuele Secondo.
Wo? Beim Viktor Emanuel!
Wo? Knapp vor der kolossalen Reiterstatue, auf der Seite mit dem blau-gelben Schirm.
Ich seh euk nicht… Ah! Gefunden! Komme.
Vittorio Emanueles kolossale Reiterstatue beim Befehligen seiner Taubenarmee.

Vittorio Emanueles kolossale Reiterstatue beim Befehligen seiner Taubenarmee.

Alle Nachteile, die einem 1,92 Meter beim Busreisen bereiten, verwandeln sich in einer Menschenmasse lauter Italiener urplötzlich zum Vorteil. Man sieht die Leinwand. Und man wird gesehen.
Sum Glück sieht man dich leicht, weil alle so klein sind. Aber eh, du als Istoriker weißteh schon, wer das ist, eh!? Das ist Vittorio Emanuele der Sweite!
Wir wussten es, auch wenn man es als Österreicher lieber nicht täte. Der Codename für Vittorio Emanuele lautete Verdi. Scheinbar um den Komponisten zu huldigen riefen die Italiener zu der Zeit, als Österreich laut dem bescheidenen AEIOU (Austria est imperatrix omnis universi  – alles Erdreich ist Oesterreich Untertan) die ganze Welt beherrschte und zumindest Norditalien noch zum OU der lateinischen oder dem AE der deutschen Abkürzung gehörte, gerne „Viva Verdi“, was sich wiederum als „Viva Vittorio Emanuele Re d’Italia“ interpretieren lassen sollte und auf den Herren dieser kolossalen Reiterstatue Bezug nimmt. Egal. Es gab Wichtigeres. Wie das Finale. Auch wenn Michi zunächst noch die Rolle der mahnenden Vernunft spielte: „Ihr wisst schon, dass das Finale auch schlecht ausgehen kann!?“ konnte ich mir beim besten Willen nicht ausmalen, wie diese knapp 200.000 Menschen an diesem Abend kollektiv traurig und still den Platz räumen und nach Hause gehen sollten.
Als der Platz am Platz zu eng wurde, flutete sich die Galleria.

Als der Platz am Platz zu eng wurde, flutete sich die Galleria.

Michi konnte es bis zum Anpfiff auch nicht mehr. Also war es nur mehr die Formsache, die es laut Buchmachern ganz und gar nicht war. Wie in Trance und nervenschonend fiel das 1:0 bereits in der ersten Halbzeit. Jubel. Überall. Auf den Laternen, auf den Balkonen, auf jedem Quadratmillimeter des Platzes und der ausstrahlenden Straßen. Halbzeit. Falls es am Ende doch anders kommen sollte, wollten sich einige nicht entgehen lassen, zumindest einen Kracher gezündet zu haben. Bengalische Feuer, einzelne aufsteigende Heißluftballone in Pokalform, aber noch eine spürbare Anspannung. Vorher kam man, um etwas zu gewinnen und einen Traum zu erleben. Er schien jetzt wahr zu werden. Aber mit einem 1:0 Vorsprung gibt es plötzlich auch was zum Verlieren. Es kam nicht so weit. Nach dem 2:0 war es aber schwer, sich wieder klarzumachen, dass das Spiel noch nicht aus war. Als man sah, wie sehr Inter dank Mourinho-Taktik den Gegner im Griff hatte (zumindest schien das so in der subjektiven Wahrnehmung. Objektiv konzentrieren konnte ich mich sowieso nicht mehr) kam die Entspannung, der Genuss und die Hoffnung, dass dieses Spiel noch ewig dauert und längstmöglich genossen werden kann.
Kaiser Konstantin, der sich bereit erklärt hat, die Interfahne zu halten.

Kaiser Konstantin, der sich bereit erklärt hat, die Interfahne zu halten.

Schlusspfiff. Jubel! Autocorsi! Hupende Vespas. Feier vor einer Statue des römischen Kaisers Konstantin, der sich bereitwillig zur Verfügung stellte, eine riesige Interfahne zu halten. Und ein Riesendank an den unaussprechlichen isländischen Vulkan, dass Inter Champions-League-Sieger wurde. Vielleicht sollte Island doch auf die Liste der eventuellen Reiseziele aufgenommen werden, nachdem sein Vulkan schließlich einen kleinen Beitrag geleistet hat. Danke auch, dass wir mit dem Flieger zurückreisen durften. Zumindest zurück nach Bratislava, von dort ging es dann diesmal mit dem Twin-City-Katamaran auf der Donau zurück nach Wien. Ätsch, Bus! Danke, Eyiafjallajökull! Und forza Inter!

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